Samstag, 30. März 2019

REZENSION zu Stella

Buchinfo

Titel: Stella
Autor: Takis Würger
Seitenzahl: 224
Erschienen: 11.01.2019
Verlag: Hanser
ISBN: 978-3-446-25993-5
Preis: 22,00 €

Inhalt

Friedrich ist ein stiller junger Mann mit unabhängigem Blick, der 1942 vom Genfer See nach Berlin kommt, um sich dort mit eigenen Augen von dem Wahrheitsgehalt der Gerüchte über die schrecklichen Schicksale der Juden im Scheunenviertel zu überzeugen. In einer Kunstschule lernt er die bildschöne Kristin kennen, die ihn in die Welt der geheimen Jazzclubs entführt, wo er auf den zwielichtigen, charismatischen SS-Mann Tristan von Appen trifft. Kristin und Friedrich werden schon bald ein Paar, bei ihr kann er sich einbilden, der Krieg sei weit weg. Doch eines Morgens klopft Kristin an die Tür seines Hotelzimmers, gezeichnet von stundenlanger Folter, mit abrasierten Haaren: "Ich habe nicht die Wahrheit gesagt." Kristin heißt eigentlich Stella, ist Jüdin und wird nach ihrer Enttarnung von der Gestapo zu einem unmenschlichen Pakt gezwungen, um ihre Eltern vor der Deportation zu bewahren. 

Erster Satz

"Im Jahr 1922 verurteilte ein Richter Adolf Hitler zu drei Monaten Gefängnis wegen Landfriedensbruchs, ein englischer Forscher entdeckte das Grab Tutanchamuns, James Joyce veröffentlichte den Roman Ulysses, die Kommunistische Partei Russlands wählte Josef Stalin zum Generalsekretär und ich wurde geboren."

Eigene Meinung

Angelockt von den goldenen Lettern sowie dem hübschen Gesicht auf schwarzem Grund habe ich "Stella" in der Buchhandlung in die Hand genommen, noch bevor ich von all der vernichtenden Kritik oder den Lobeshymnen gehört habe. Meine Neugier war also schon geweckt, bevor dieser Aufschrei durch die Literaturwelt ging, doch zugegebenermaßen hat mich wahnsinnig interessiert, wie ein Buch die Macht besitzt die Leserschaft so rigoros in zwei Lager zu spalten. Entweder man hasst das Buch oder man liebt es, eine Mitte scheint es nicht zu geben und doch finde ich mich dort, mit deutlicher Tendenz ins Positive - am ehesten wieder. Die fiktive Geschichte des Ich-Erzählers Friedrich, die sich als schwarz-weiß Film mit hinterlegter Jazzmusik vor meinem inneren Auge abspielte, berührte mich ehrlich gesagt gar nicht so sehr. Die Figuren finde ich zu schwach gezeichnet, ihnen fehlt meiner Meinung nach die Tiefe, allen voran der Charakter der Stella Goldschlag war mir zu blass. Was ich dafür viel faszinierender fand waren die einleitenden Fakten zu Beginn eines jeden Kapitels, welche schlagzeilenartig den historischen Kontext als Rahmen setzten, der jedoch so losgelöst von der eigentlichen Erzählung wirkte, als handele sich dabei um zweierlei Geschichten. Denn der Kontrast zwischen der hollywoodartigen Liebesromanze des weltoffenen Schweizers Fritz, der ins Nazideutschland kommt und sich dort in eine wunderschöne, blonde Jüdin verliebt, und den abscheulichen Schicksalen der Juden, schnörkellos nüchtern auf den Punkt gebracht, könnte nicht größer sein. Dieser Effekt wird verstärkt durch kursiv gedruckte, scheinbar wahllos in die Erzählung eingefügte Auszüge aus Feststellungen eines sowjetischen Militärtribunals, die in ihrer Unkommentiertheit herausstechen, den Leser aus der tranceartigen Erzählung herausreißen und mehrmals die Frage nach dem Wie? und Warum? aufkommen lassen. Gerade durch das konsequente Ausbleiben einer Erklärung setzen sich diese penetrant im Hinterkopf fest und sorgen für eine zunehmend verzerrte Wahrnehmung auf die Erzählung und ihre Protagonisten. Fritz, dessen Mutter selbst leidenschaftlich antisemitisch Parolen schmettert, ist ein junger, stiller Gutmensch, der sich eines unabhängigen Blickes rühmt. Sein Vater ist wohlbetucht, reist in die Welt und ist später gar dem Islam zugeneigt. Irritierend wie bemerkenswert zugleich ist die Widersprüchlichkeit des Fritz'schen Charakters. Obwohl man aus der Perspektive des Ich-Erzählers das Geschehen verfolgt, bleibt dem Leser ein Großteil seiner Gedanken verwehrt, es handelt sich eher um ein an der Oberfläche kratzen. Fritz reist eigens nach Berlin, um sich angelockt von grausamen Gerüchten selbst ein Bild von der Situation der Juden im Scheunenviertel zu machen. Jedoch verschiebt sich nach seinen Begegnungen mit Stella und Tristan von Appen sehr schnell sein Fokus, in den Zeiten der Nahrungsrationierung führt er ein ausschweifendes Leben, der wütende Krieg wird nebensächlich, was für Fritz zählt ist seine Liebe zu Stella - selbst als nach zahllosen Andeutungen auch ihm auffallen sollte, welch zwielichtige Rolle sie spielt. Er verurteilt sie nicht als die jüdische Gestapo-Kollaborateurin, die Greiferin oder als das blonde Gift, wie sie in gewissen Kreisen bekannt wie gefürchtet war, er akzeptiert sie in ihrer Menschlichkeit. Ob er nur über Schwächen hinwegsieht oder es gar an Ignoranz grenzt ist wieder eine andere Frage, die jede Menge Spielraum für Interpretationen lässt wie auch die leisen Zwischentöne inmitten der schallenden antisemitischen Topoi. Genau das ist es auch, was ich an diesem Roman so faszinierend finde: Man bekommt schwer greifbare Protagonisten mit undurchsichtigem Charakter vorgesetzt, steht an der Klippe zu ihren seelischen wie menschlichen Abgründen und taucht doch nie ganz ein, lässt sich von einer gewöhnlich anmutenden Romanze einlullen, die im kompletten Gegensatz zu dem historischen Sprengstoff steht, der sich unter blonden Locken und einem hübschen Lächeln verbirgt und weiß doch nie so recht, was man von all der Widersprüchlichkeit halten soll.

Müsste ich eine Überschrift wählen, würde diese lauten: "Stella" - ein Roman, der die Literaturwelt spaltet. Aber ist es nicht genau das, worauf Literatur abzielt? Die gewohnten, plattgetrampelten Wege der Gedanken zu verlassen, ein sensibles Thema aus anderen Blickwinkeln zu betrachten und in den Diskurs zu gehen? Eines ist Takis Würger auf jeden Fall gelungen: Sein Roman lässt niemanden kalt, in jedem Leser löst die Erzählung über das "blonde Gift" etwas aus, sei es große Begeisterung oder doch eher ungläubiges Entsetzen. Dieser Roman hat nicht den Anspruch die historische Figur der Stella Goldschlag in Form einer Biografie aufzuarbeiten, vielmehr ist es der literarischer Versuch die Nähe von Schönheit und Terror eindrucksvoll darzustellen. 

"Stella" ist eine Erzählung, die in ihrer Ungeschliffenheit, den Ecken und Kanten sowie dem thematischen Sprengstoff noch lange nachhallen und die Literaturwelt einige Zeit beschäftigen wird.

Bewertung


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